Abel steh auf

Rede des kath. Vorsitzenden der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit München, Pfarrer Stefan Weggen, bei der Abschlussveranstaltung der Woche der Brüderlichkeit,

Großer Sitzungssaal des Münchner Rathauses,10.3.2002

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen“. Das Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit enthält eine ungeheure Zumutung. „Abel steh auf“ erwartet etwas vom Opfer, nicht vom Täter.
Der andere Anfang, das neue Spiel, wie es im Gedicht von Hilde Domin auch heißt, es muss mit Abel beginnen. Und das ist ungeheuerlich: Die Umkehr, die Wende, der Neubeginn wird nicht dem Täter, sondern dem Opfer zugemutet, zugetraut.

„Abel steh auf“, das sagt Hilde Dominals „ein Kind Abels“, wie sie selbst sich bezeichnet. Die deutsche, jüdische Autorin hat die Schoa im Exil überlebt. Aber können wir, kann ich, dieses „Abel steh auf“ nachsprechen, mir zu eigen machen?
Kann ich es aussprechen als Bürger im Lande Kains, das Verantwortung trägt für die systematische Vernichtung von sechs Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder? Kann ich es aussprechen als Theologe, als Priester einer Kirche, die sich in ihrer Geschichte eben nicht als Hüterin ihrer jüdischen Brüder und Schwestern verstanden und erwiesen hat?

„Abel steh auf“, wird da nicht das Unmögliche gefordert, erhofft, herbei gesehnt? Die Geschichte keines Konfliktes, auch nicht die Geschichte von Christen und Juden, kann umgeschrieben werden. Was geschehen ist, ist geschehen.
Kann es heute, in unserer zeit, trotzdem anders anfangen? Kann wenigstens jetzt neu gespielt werden? Oder bleibt die biblische Geschichte von Kain und Abel das bestimmende Paradigma der Menschheitsgeschichte, ein blutiges, grausames Spiel, das täglich neu Kain und Abel vergessen lässt, dass sie Brüder, dass sie Menschen sind, einer des anderen Hüter?

Gibt es einen neuen Anfang zwischen Juden, Christen, auch Muslimen, in unserem Land? Ist das, was wir an Dialog und Begegnung zwischen den religionen mühsam genug zu Wege bringen, so, dass wir es vollmundig einen neuen Anfang nennen dürften, ein grundlegend neuer Anfang, der für Hilde Domin im jahr 1969, als das Gedicht entstand, offenbar noch ausstand?
Kann tatsächlich neu gespielt werden, etwa zwischen Israelis und Palästinensern, auf den zahlreichen Kriegsschauplätzen der Erde, auf denen Kain Kain wird und der Bruder zum Feind?

Gibt es Auswege aus unseren menschlichen Gewalt- und Schuldgeschichten, und wie funktionieren sie? Wie geht das neue Spiel, was sind seine regeln, und wer gibt sie vor?
Hilde Domin sieht die Antwort auf solche Fragen ganz auf der Seite der Opfer. Wenn Abel aufsteht, ist Kain erlöst. Wenn Abel aufsteht, kann Kain ja sagen: Ja, ich bin dein Hüter, Bruder. Aber wird Abel aufstehen?

Für einen Christen mag in diesem Aufstehen auch das Wort Auferstehung mit anklingen. Aber Auferstehung bedeutet gerade nicht das Auslöschen geschehenen Unrechts, kein vergessen machen des Gewesenen, keinen preiswerten Ausgleich zwischen Tätern und Opfern, der alle gleich und alles wieder gut macht, im Gegenteil.
Die Frage, was wir zumal den geringsten unserer Brüder und Schwestern getan und was wir für sie nicht getan haben, gehört mit dazu. Die Frage an Kain: Wo ist dein Bruder? wird uns so noch einmal in letzter Dringlichkeit gestellt. Und dann kann die Antwort nicht noch einmal lauten: Wir wissen es nicht.
Darum: Der Glaube an Auferstehung beruhigt, beschwichtigt und beschönigt nichts. er steht gegen das Verschweigen, das Vergessen, das gespielte Nichtwissen. Auferstehung ruft erst recht in die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen.

„Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen.“ Wird Abel, werden die Opfer aufstehen, auferstehen? Werden die Opfer der Vernichtungslager aufstehen, die Millionen Toten der Kriege und Gewalttaten, die Toten des World Trade Centers, die Opfer der feigen Selbstmordanschläge in Jerusalem, die Toten von Ramallah und Tulkarem?
Werden sie aufstehen? Und wenn sie aufstehen, auferstehen, wenn sie ihr Schweigen verlassen, was werden sie sagen? Welche Botschaft haben sie für die Täter?

Abel steh auf
es muß neu gespielt werden
täglich muß neu gespielt werden
täglich muß die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muß ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgaängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte
ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder

Damit die Kinder Abels
sich nicht mehr fürchten
weil Kain nicht Kain wird
Ich schreibe dies
ich ein Kind Abels
und fürchte mich täglich>
vor der Antwort
die Luft meiner Lunge wird weniger
wie ich auf die Antwort warte

Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen

Die Feuer die brennen
das Feuer das brennt auf der Erde
soll das Feuer von Abel sein

Und am Schwanz der Raketen
sollen die Feuer von Abel sein

So weit das Gedicht von Hilde Domin, das es verdient, einmal ganz gelesen zu werden.


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