Stellen Sie sich vor, Sie wären Muslim/a …
Wie würden Sie dann einen ganz normalen Tag wie heute, Dienstag den 16. Dezember 2014, erleben? Fassungslos und wütend wären Sie gerade dabei zu verdauen, dass schon wieder ein Verrückter, der sich Muslim nennt, zugeschlagen hat und am anderen Ende der Welt Menschen mit der Waffe zwingt, Ihr Glaubensbekenntnis an ein Fenster zu halten und dann auf sie schießt. Während Sie, wie so oft in diesem Jahr, in jedem Monat, Woche für Woche mit solchen Gedanken beschäftigt sind, kommt die Meldung, dass Taliban in Pakistan eine Schule überfallen und über hundert Kinder ermordet haben sollen. Bei der bloßen Vorstellung wird jedem Menschen schwarz vor Augen. Hätten Sie noch Kraft, das genauer wissen zu wollen?
Währenddessen sind soeben 15.000 Deutsche aufmarschiert, weil wohlgemerkt weder der Irre aus Australien, noch die terroristischen Taliban, auch nicht der Wahnsinnsstaat im Irak und Syrien, sondern Sie – als in Deutschland lebende/r Muslim/a – angeblich dabei sind, ein „Abendland zu islamisieren“…
Damit noch nicht genug für heute. Denn von Ihren Politikern in Deutschland bekommen Sie gesagt, dass man solche Ängste ernst nehmen muss.
Ernst nehmen! Wie schön wäre es, in der Tat, wenn diese Ihre Politiker ernst nähmen, wie Sie als Muslim/a in Deutschland sich für diese Gesellschaft, für diesen Staat und seine Wirtschaft, für Ethik und Recht stark machen? Wenn Sie diejenigen viel mehr unterstützen würden, die ernsthaft an den Problemen arbeiten, anstatt Ängste zu äußern, die andere in Wut versetzen, die die nächsten in Hass umsetzen und die übernächsten mit Gewalt austragen.
Ernst nehmen! Was wäre, wenn diese Ihre Politiker diejenigen wirklich ernst nähmen, die tagtäglich ihre Energien für wirksame Integration einsetzen, ob Muslime oder nicht, wenn die vielen konstruktiven, positiven, erfolgreichen Initiativen, die es überall gibt, die sich aber um Mittel und Kapazitäten und allein schon: um Wahrnehmung abstrampeln müssen, von der Politik mit aller Kraft unterstützt und gefördert würden, in jeder Stellungnahme an erster Stelle stünden und dadurch viel, viel mehr ins Bewusstsein der gesamten Gesellschaft gerückt würden?
Als Ihre Münchner Imame vor einigen Wochen eine gemeinsame Erklärung gegen den Irrsinn sogenannter „Islamisten“ vorgestellt haben, die an Ausführlichkeit, Deutlichkeit und Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig lässt – wo war da Ihr Bayerischer Innenminister? Was hat er dazu gesagt? Wie oft hat Ihr Ministerpräsident bisher davon gesprochen? Hat der Bayerische Landtag die Imame eingeladen, um ihren Aufruf überall bekannt zu machen? Welche Würdigung hat sich Ihr Land oder wenigstens Ihre Stadt dafür überlegt?
Es ist ja nicht so, dass Sie als Muslim/a Ängste nicht verstünden. In einem Land, dessen schrecklichster Terroranschlag schon vor 34 Jahren von Rechts kam, in dem trotzdem die Sicherheitsbehörden konsequent alle Augen verschlossen haben, als Muslime Opfer von rechten Terroristen wurden und in dem immer wieder Muslime, also Sie, als fremd und gefährlich angesehen werden.
Ist das die Schuld der Medien, deren Aufgabe es ja ist, uns alle über Schreckensmeldungen aus aller Welt auf dem Laufenden zu halten? Zu den Grundsätzen aller seriösen Medien gehört die Ausgewogenheit. Sie als Muslim/a wüssten, was ausgewogen hieße: Wenn vor und nach jeder Meldung über „islamistische“ Gewalt tausend Meldungen über normale Muslime in den Medien erschienen – das wäre ausgewogen. Natürlich, so viel Platz ist in keiner Zeitung und in keiner Nachrichtensendung. Auch nicht für hundert Meldungen über normale Muslime. Vielleicht für zehn? Das wäre noch lange nicht ausgewogen, und zehn Ereignisse, Initiativen, Stellungnahmen würden sich, wie Sie wissen, leicht finden lassen. Aber – warum erscheint nicht konsequent pro Terrormeldung je 1 positive Meldung über Muslime und Islam in den Medien? Warum?
Wenn Sie Muslim/a wären, würden Sie dann heute, an einem ganz normalen Tag, vielleicht verzweifeln, sich abschotten und in eine Parallelwelt flüchten? Oder würden Sie, vielleicht aus dem Gebet oder der meditativen Koranrezitation, die Kraft schöpfen, die Sie brauchen, um heute weiter zu machen, das Gute zu tun und das Ihre zur gemeinsamen Zukunft in diesem Land beizutragen? Gott weiß, was der morgige Tag bringt.
16.12.2014, Stefan Jakob Wimmer
Der Verfasser ist Privatdozent an der LMU, Orientalist an der Bayerischen Staatsbibliothek,
1. Vorsitzender der Gesellschaft Freunde Abrahams zum interreligiösen Dialog
und Vorstandsmitglied im Münchner Forum für Islam