Erdverantwortung

Vortrag von Prof. Görg im Rahmen der Ringvorlesung: ERDE – BEDRÄNGNIS UND BEDRÄNGER
Dienstag, 26. November

Erdverantwortung – jüdische, christliche und muslimische Perspektiven

1. Provokation der Zeit

Die jüngste Umweltkatastrophe an den Küsten Spaniens und Portugals ist weit mehr als ein lokal begrenzbares Ereignis. Es hat Signalwirkung für ein übergreifendes Desaster, dem die umweltpolitischen Strategien nicht gewachsen zu sein scheinen. Der dahintreibende und auseinandergebrochene, mittlerweile gesunkene Öltanker, der den Atlantik mit riesigen Mengen giftigen Schweröls „versorgt“ hat und wohl auch noch weiterhin „versorgen“ wird, ohne selbst „entsorgt“ werden zu können, ist einerseits Symbol für die vom Ölkonsum profitierende und die vom Öl abhängige Wirtschaft der industriellen Nationen vorwiegend des Westens, andererseits ein, wie man weiß, sozusagen globales Wahrzeichen eines Konstruktes mit internationaler Beteiligung, einer multiethnischen Besatzung unter der Flagge der Bahamas, mit einem schönklingenden und doch verräterischem Namen. Schiffbruch erlitten hat hier offenkundig jedweder Ansatz einer bleibenden Legitimation nicht mehr erneuerbarer Energien dieser Erde, überdies die Inanspruchnahme internationaler Kooperation durch ausschließlich ökonomische Interessen. Von wirklicher Interkulturalität keine Spur. Schon gar nicht von einem übergreifend verantworteten Weltethos, das auch und gerade vor den schwindenden Schätzen der Natur dieser Erde geltend gemacht werden müßte. Wo bleibt mit dem Untergang der „Prestige“ das Prestige der Verantwortungsethik? Die Herren des Schiffes mit dem Namen „Prestige“ haben die Würde der Natur verletzt und so den Namen verspielt.

Auch das Erdenschiff schlingert dahin. In diversen Regionen dieser Erde stehen wir am Rand eines Krieges, der schnell geopolitische Auswirkungen haben kann. Dabei stehen für viele völlig unerwartet Kulturen gegen Kulturen und nicht zuletzt Religionen gegen Religionen. Gerade in der unmittelbaren Gegenwart sieht sich die Welt des Islam zunehmend in der Konfrontation mit der westlichen Welt, wie andererseits Teile der westlichen Welt in den islamischen Ländern eine Bedrohung ihrer Sicherheit, des abendländischen Wertesystems auf jüdisch-christlicher Basis und ein terroristisches Potential zu erspähen glauben. Politik und Religion verbünden sich so wie häufig in der Geschichte auf fatale Weise. Vergeblich, so scheint es, hält man Ausschau auf eine Vernunft, die eine Basis für eine künftige Balance hergeben könnte. Allenfalls die UNO könnte einen Funken Hoffnung vermitteln, wären nicht auch hier die Kräftespiele spürbar, die letztendlich der Friedensförderung im Wege stehen können.

Das Bild vom schlingernden Erdenschiff erscheint mir jedenfalls zutreffender als jenes, das die Erde „zum großen Weltdorf“ geworden sein läßt. Doch auch diese Sicht hat eine gewisse Legitimation, wie sie jüngst von Peter Rosien in einem Artikel der Zeitschrift Publik-Forum geäußert worden ist: „Die einst geographisch deutlich getrennten Kulturen durchdringen einander. Aber auch in sich selbst sind die Kulturen ungeheuer komplex und plural geworden, dabei insgesamt stark beeinflußt durch die westliche Zivilisation“, so daß der Einzelne „unter den vielen Sinnstiftungsangeboten und -anforderungen, die auf ihn einwirken, eine Auswahl“ zu treffen habe. In der griechischen Sprache heißt Auswahl „Hairesis“, so daß der heutige Mensch geradezu eine Art Häretiker sein müsse, um noch bewußt existieren zu können, wie Peter L. Berger in seinem Buch „Der Zwang zur Häresie“ meint.

2. Chancen der Religion?

So stehen wir unversehens bei der Rolle der Religion und der Religionen in der Verantwortung für die Erde. Bergers Buch trägt den Untertitel „Religion in der pluralistischen Gesellschaft“. Seine These lautet, der Einzelne wende „seine Aufmerksamkeit von der objektiv gegebenen Außenwelt zu seiner Subjektivität“, wodurch die Außenwelt „immer fragwürdiger“ und die Innenwelt „immer komplexer“ werde. Ganz anders offenbar die Perspektive von Autoren wie Bassam Tibi, der für einen Euro-Islam wirbt, um gleichzeitig gegen ein Nebeneinander von „ethisch-religiösen Subkulturen“ zu Felde zu ziehen, die „Vorbedingungen eines Bürgerkrieges, also genau das Gegenteil einer harmonischen Multi-Kulti-Idylle“ darstellen würden. An jeden Zuwanderer müsse demnach die rigorose Forderung gerichtet werden, sich dem säkularen Wertesystem des Westens zu verschreiben: „Muslime und Nichtmuslime können nicht in Frieden zusammenleben“. Traditionsbewußte, keineswegs fundamentalistische Muslime indessen können mit einem Euro-Islam Tibi-scher Prägung nichts anfangen, da er in ihren Augen eine unvertretbare Relativierung islamischer Überzeugungen und der Prinzipien des Koran darstellt. Was also kann im Blick auf den Frieden auf der Erde und mit der Erde die Handlungsdevise sein?

Die Assimilation zwischen den Kulturen und Religionen ist ein Begleitphänomen der europäischen Geschichte. Christen haben sich im Laufe der Jahrhunderte der griechisch-römischen Welt geöffnet, das Judentum hat sich den Prozessen um die Assimilierung gestellt und nach vielen Auseinandersetzungen und Rückschlägen Wege zur Integration gefunden. Weder das Christentum noch das Judentum haben ihre ureigene und genuine Prägung, ihre bewußt gelebte Identität leichtfertig aufs Spiel gesetzt; beide Religionen haben im Abendland trotz bitterer Erfahrungen eine neue Heimat gefunden, ja sie haben diesem Weltteil ein unverwechselbares Gesicht gegeben. Aber auch der Islam ist längst im Abendland gegenwärtig geworden; ohne seine Beiträge für die Wissenschaft der Medizin, der Astronomie, der Mathematik, ohne seine großen Philosophen und Theologen wäre unsere Kultur ärmer und weiß Gott nicht auf dem Bewußtseinsstand unserer Tage. Zu all diesen Einflußnahmen, wie sie in Südeuropa, besonders in Spanien von bleibender Nachwirkung waren, bedürfte es nicht der Konstruktion eines Euro-Islam. Sollte nicht auch heute, allen Widerständen und Vorbehalten zum Trotz, ein mit sich identisches islamisches Bewußtsein eine Chance haben und behalten?

Auch ohne die Fragestellungen, die ein Miteinander der Religionen mit sich bringen mag, kann nicht von einer simplen Gleichförmigkeit des Islam die Rede sein, wie es denn auch nicht den Juden oder den Christen gibt. Differenzierungen bis zu extremen Randerscheinungen gehören zum Spektrum jeder religiösen Denomination. Es sei darum gerade im Blick auf eine Erdverantwortung, die wir hier bewußt nicht mit einem „Weltethos“ ineinssetzen, wie es Hans Küng gefordert hat, erneut nach einem Grundkonsens gefragt, der vor allem die drei Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam in eine gemeinsame Verantwortung rufen würde.

Ich fühle mich gerade angesichts der wachsenden und virulenten Zweifel und Rückzugsgefechte durch einen Brief Hans Georg Gadamers ermutigt, den dieser berufene Diagnostiker des 20. und auch 21. Jahrhunderts in einem Brief an mich geschrieben hat und worin er für ein Zusammenwirken der Religionen als der letzten Chance für den Frieden in der Welt plädiert.

Schauen wir also zu, welche Maßgaben dem Judentum, dem Christentum und dem Islam derart zu eigen sind, daß sie einen genuinen Akzent im Zusammenspiel der gemeinsamen „Arbeit an einer besseren Welt“ setzen können.

3. Stimmen im Judentum

Die Stimme des Judentums stehe als die früheste Bekundung einer Initiative zur Erdverantwortung am Anfang. Natürlich bezieht sich das Judentum primär auf die Tora, um dieser aber die Halacha als praktische Auslegung an die Seite zu stellen. Die Grundstelle der Tora findet sich im Buch Bereschit (1. Buch Mose) Kap.1,26-28 mit dem leider häufig aus dem Zusammenhang gerissenen und unendlich oft mißverstandenen Auftrag an den von Gott als sein Bild und als Mann und Frau geschaffenen Menschen „Füllt die Erde und betretet sie“ oder (in der bekannteren Wiedergabe) „Macht euch die Erde untertan“ (1,28). Dazu bemerkt der jüdische Kommentator Benno Jacob im Jahre 1934: “ Mit diesem Einen Worte, das Ps 11516 ((„Die Erde hat er den Menschen gegeben“)) widertönt, ist dem Menschen die uneingeschränkte Herrschaft über den Weltkörper Erde verliehen, deshalb kann keine Arbeit an ihr, z.B. Durchbohrung oder Abtragung von Bergen, Austrocknen oder Umleiten von Flüssen u.dgl., als gottwidrige Vergewaltigung bezeichnet werden“. Das klingt aufs erste erschreckend, scheint es doch bei aller Zurückhaltung den Freibrief für großangelegte Eingriffe in natürliche Abläufe auszustellen, eine von Gott autorisierte Umgestaltung, deren Problematik in der Gegenwart besonders empfunden wird. Jüngere jüdische Stellungsnahmen sind denn auch von größerer Behutsamkeit geprägt, wenn etwa Shemarjahu Talmon meint, daß es mit den zitierten Worten dem Menschen aufgetragen sei, „in der erschaffenen Welt die Ordnung zu bewahren, die von Gott zur Zeit der Schöpfung errichtet wurde, und als Partner Gottes die konstituierenden Regeln der Kosmogonie in der Geschichte auszuführen“, welche Idee „ein handlungsbetontes, diesseitsorientiertes Menschenbild vor und nahe bei Gott“ bewirke. Eine radikale Bezogenheit auf ein Diesseits steht also im Vordergrund der jüdischen Auslegung. Sie ist gepaart mit einer enormen Willensfreiheit, wie dies u.a. Jakob Petuchowski betont hat, die ihrerseits wieder mit der Allmacht Gottes zu konkurrieren scheine, aber eben darin die grenzenlose Macht des Schöpfers demonstriere, der es sich leisten könne, zu Gunsten des Menschen auf der Erde auf einen Teil seiner Allmacht zu verzichten.

Freilich erkennt die jüdische Auslegungsgeschichte der neueren Zeit auch ausdrücklich, daß dem schier unermeßlichen Handlungsvermögen des Menschen Grenzen gesetzt sind. Doch ist hier nicht in erster Linie an die Gefahren eines Mißbrauchs der Erde im Handeln an der Erde gedacht: „Versündigen kann sich der Mensch nur durch unsittliches Verhalten auf der Erde, durch das er sie entweiht und das sie mitfühlt“ (B. Jacob mit Verweis auf Genesis 6,13). Die Gefahr einer hybriden Selbsteinschätzung „führt den Menschen in Versuchung, den Himmel zu erstürmen“, so daß er daran erinnert werden muß, „daß er aus Staub gekommen ist und zu Staub zurückkehren muß“ (Talmon). Doch die Möglichkeit einer „Erstürmung“ der Erde wird hier nicht in Frage gestellt. Die Paradoxie gehört offenbar zum Programm, ist Kennzeichen der „Religiösität des Judentums“ (L. Baeck): Der Mensch darf die Erde erobern, sich aber nicht dem Himmel nähern wollen. Diese Devise verträgt sich dann mit der Einsicht, daß der jüdische Glaube „auf den Menschen oder auf die menschliche Gemeinschaft gerichtet“ und „nicht vorwiegend theozentriert“ sei (Talmon). Nach Abraham Heschel spricht die Bibel sogar „nicht nur von der Suche des Menschen nach Gott, sondern auch von Gottes Suche nach dem Menschen“. Bezogen auf die Frage nach der Erdverantwortung hieße das, daß Gott geradezu auf die Wahrnehmung der menschlichen Kontrolle über die Erde angewiesen sei und sie brauche.

Was heißt also Erdverantwortung im jüdischen Sinn? Das entschiedene Engagement für diesseitsorientierte Besserung der menschlichen Verhältnisse, um Gerechtigkeit und Humanität. Hier treffen zwei Prinzipien aufeinander und sind dialektisch vereint. Das „Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch und das „Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas. Hoffnung in dem Sinn, daß der Mensch keinem „trägen Quietismus“, sondern einem „Träumen nach vorwärts“ zu folgen hätte, und Verantwortung für das Leben, die der Bekämpfung des Leids in der Natur auf der Erde nicht ausweicht. Beispielhaft für diese im Kern jüdische Erdverantwortung steht Viktor Frankl mit seiner lebensbehahenden Devise „Trotzdem Ja zum Leben sagen“, weil er gerade im Durchstehen der Erfahrungen von Auschwitz den engagierten Bezug zum Leben als umfassende und bleibende Sinngebung des Daseins verstanden und proklamiert hat.

Nathan Peter Levinson will „Arbeit an der Welt“ in das Verständnis des jüdischen Messianismus einbringen. In dem hebräischen Signalwort Tikkun, die „Erhöhung des Gefallenen“, kulminiert dieses Streben nach schrittweiser, nicht überhasteter, eben realistischer Verwirklichung von „Liebe und Mitmenschlichkeit“. Der Diesseitsbezug befreit das Judentum vor allzu eilfertiger Orientierung auf ein jenseitiges Leben, dem alle Unsäglichlichkeit dieser Welt fremd sei. Shemarjahu Talmon sieht gerade im Judentum die nüchterne, sukzessive und dadurch effektive Verwirklichung des Machbaren apostrophiert, also nicht eine hemmungslose oder vertröstende Hinordnung auf ein überirdisches Dasein. Dem entspricht das Interesse des Judentums am realexistierenden Jerusalem, das idealisierte oder himmlische Jerusalem überläßt der Jude gern den Christen.

4. Christliche Deutungswege

Damit kommt das Christentum in den Blick, jene eigenwillige Reformbewegung innerhalb des liberalen Judentums, das sich auf den Juden Jesus zurückführt und von seinem Ursprung weder lassen kann noch loskommt. Und dies trotz jahrtausendealter Rivalität, die freilich erst in unseren Tagen zum Respekt vor dem Andersseinwollen im Judentum und zugleich zur Entdeckung gemeinsamer Grundpositionen geführt hat.

Zwar legt man sich noch immer im Judentum ein Bild des Christentums zurecht, sieht beispielsweise im Christentum eben jene merkwürdige Eilfertigkeit im Hang zum Jenseits beheimatet, die Shemarjahu Talmon als „ungeduldige Eschatologie“ kennzeichnet. Doch kann man nicht daran vorbei, daß die Botschaft Jesu auf Veränderungen in dieser Welt und damit auf eine gläubige und aktive Grundhaltung auf dieser Erde hinzielt und diesen Lebensraum als Ort der Bewährung versteht, im Grunde ohne irgendeine Unterscheidung von dem, was auch jüdische Intention wahrnimmt. Das hier und dort geforderte Grundvertrauen auf den Schöpfer und Bewahrer des Lebens auf dieser Erde verbietet im Grunde jedes Auseinanderdriften im Interessenfeld. Juden und Christen brauchen demnach keine wechselseitige Mission, sondern eine kooperative Solidarität in der Vermenschlichung des Lebens. Die Botschaft Jesu kommentiert das alttestamentliche Menschenbild gerade darin, daß sie den überzeugenden Dienst am Schöpfer und damit an der Lebenswelt zum Programm erhebt.

Da die Christen nämlich ohne die Bezugnahme auf die jüdische Tora ihre eigene Basis und Substanz verlieren, sind auch sie auf den im Buch Genesis artikulierten Auftrag verwiesen. Der Herrschaftsauftrag über die Erde, in der lateinisch geprägten theologischen Begriffssprache „dominium terrae“ genannt, hat in der abendländischen Theologie und Rezeption eine höchst spannungsreiche Interpretationsvielfalt erfahren. Man denke an die imperialen Aufbrüche bis hin zu den imperialistischen Auswüchsen, an die Ermächtigung des Kapitals, aber auch an die Universalisierung des Proletariats im Befreiungskampf. Die religiösen Wurzeln politischer und ideologischer Systeme zur Inanspruchnahme autonomer Erdverantwortung sind unverkennbar. Freilich ist auf der anderen Seite die Verantwortung vor Gott als dem ganz Anderen die eigentliche Herausforderung geblieben, selbst da, wo Christen sich ihrer Herkunft nicht mehr erinnerten. Es ist das Gerufensein zum verantworteten Dienst in und an der Welt, genauer zum Hegen und Pflegen des Gartens Erde.

Dominium terrae. Die christliche Perspektive hat sich in den letzten Jahren von einer kritiklosen Rezeption eines ausschließlich possessiv verstandenen Auftrags zur Erdgestaltung hin zu einer zurückhaltenden Einschätzung der künftigen Möglichkeiten des Menschen verändert. Man wendet ein, daß es eigentlich für eine konstruktive Arbeit an der Erde viel zu spät sei, so sehr habe der Prozeß der Denaturierung der Umwelt bereits zugenommen, daß jede Hoffnung auf einen Rekurs auf Erholung der Natur illusorisch sei. Da kommt mir jene Karikatur zum biblischen Auftrag in den Sinn, die ein Menschenpaar wie Adam und Eva vor einer völlig zerstörten und wüstenartigen Landschaft zeigt und wie sie ihrem Schöpfer zu verstehen geben: „Wir sind fertig mit Untertanmachen, was sollen wir jetzt tun?“ Ist also das Desaster nicht schon soweit fortgeschritten, daß jeder Appell an Erdverantwortung obsolet ist und geradezu als Hohn empfunden werden müßte?

Selbst da jedoch, wo die Verwüstung soweit fortgeschritten ist, daß menschlicher Einsatz scheinbar aussichtlos ist, kann es für eine Erdverantwortung niemals endgültig zu spät sein. Eine deutliches Signal setzen gerade gegenwärtig die verzweifelten Bemühungen, der Ölpest zu begegnen. Doch allmählich dämmert eine notwendige Einsicht, solchen Grenzsituationen im weiteren Vorfeld zu begegnen. Es bedarf einer radikalen und neuartigen Gewissenhaftigkeit. Ebenfalls auf christlich-humanitärem Boden gewachsen, ist das alternative Postulat einer „Selbstbeschränkung“ (Chr. Uehlinger). Gemeint ist das gerade Gegenteil einer Vergewaltigung der Natur einschließlich der Mechanismen von Ausbeutung und Vernichtung. In der Beschränkung auf die lebensfördernden Bedürfnisse sollte sich die genuine Meisterschaft menschlicher Gestaltungskraft erweisen. Nicht Herrschaft im überkommenen Sinn wäre gefragt, sondern eine Bereitschaft zum Dienst an allem, was lebt, ja sogar an allem was scheinbar leblos ist oder geworden ist. Auch der verstorbene Mensch ist nicht totes Objekt, so daß man meinen könnte, an ihm gedankenlos herum experimentieren zu können. Die marktschreierische Obduktion einer Leiche, die gerade erst in London vorgenommen wurde und hoffentlich nicht hier in München wiederholt wird, mag als Signal dafür stehen, daß die Würde des Körpers mit seiner Geschichte und unverwechselbaren Individualität in Gefahr gerät, einer respektlosen Verwertungsgesellschaft zum Opfer zu fallen.

Ein relativ neuer Ansatz in der christlichen Auslegungsgeschichte von Genesis 1,26-28 geht von einer intensiveren Beachtung und Ausleuchtung des textlichen Zusammenhangs aus. Der Kontext läßt nämlich im unmittelbaren Anschluß an die Worte „Betretet sie“, d.h. die Erde, den weiteren Aufruf „Beherrscht“ folgen, und zwar mit dem Objekt: die Tiere des Wassers, des Himmels und der Erde. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen soll sich demnach in seiner Herrschaft über die Tierwelt erweisen. Hier wird denn auch die besondere Verantwortung gesehen, sei es, daß man sich in erster Linie dem Schutz der Arten zuzuwenden habe, um diesem großen Bereich der lebenden Existenzen eine Zukunft zu sichern, oder daß man die Tierwelt auf dem Land, im Wasser und am Himmel als metaphorische Umschreibung der Lebenswelt als ganzer versteht und hier die Verantwortung für alles Leben entdecken möchte, oder schließlich, daß man, wie ich es für vertretbar halte, die Tierwelt in ihrer mythologischen Bedeutung, nämlich ihrer ambivalenten Symbolik für die lebensfördernde und lebensfeindliche Welt, angesprochen sehen möchte. Für die letztgenannte Sicht spricht nach meiner Meinung am ehesten die Bildtradition der altorientalischen Welt, die den König als den exemplarischen Menschen gern stehend oder thronend über den von ihm dominierten Völkerschaften zeigt, die z.T. auch in Tiergestalt auf dem Thronsockel oder einem Fußschemel dargestellt sind (vgl. die Abb. nach O. Keel). Die Tiere sind in der Bibel als „Gefährten und Feinde des Menschen“ (B. Janowski) ausgewiesen, versinnbilden also das Pro und Contra zum menschlichen Leben. Sie können religionsgeschichtlich gesehen für jene Umweltbereiche stehen, die menschliche Verantwortung in der Wachsamkeit über Licht und Schatten in der Lebenswelt nötig machen und darin die eigentliche Qualität des Menschen als „Bild Gottes“ sehen lassen. Es sei jedoch auch betont, daß der größere Zusammenhang des Bibeltextes einerseits vom Versagen des Menschen trotz seiner erhabenen Ausstattung redet und andererseits von seiner neugeschaffenen und neu bewußten Dienstfunktion, die ihn der Verpflichtung einer gewissenhaften und permanenten Reflexion über sein Tun vor Gott aussetzt.

Dominium terrae. Ein weiterer, vielleicht sehr kühner und womöglich ausbaufähiger Aspekt. Zur Erde gehört schließlich doch auch die aufgewühlte Natur ebenso wie die scheinbar bewegungslose Natur, das scheinbar tote Gestein ebenso wie die mehr oder weniger deutlich faßbare Explosion im Naturgeschehen. Wie steht es mit der Verantwortung gegenüber der vulkanischen Eruption, dem expandierenden Wüstensand, der ausufernden Wassermassen, dem tobenden Sturm und Unwetter. Wird die Natur hier nur bekämpft oder vielmehr in ihrem originären Anspruch oder möglichem Widerstand gegen einengende Maßnahmen zu begreifen sein? Erdverantwortung auch in der Konfrontation mit einem Bedrohungspotential, das u.a. Erweisen menschlicher Mißachtung und Respektlosigkeit eine folgenreiche Antwort gibt? Auch könnte man zugespitzt fragen: wenn es Aufgabe des Christen sein soll, sich gerade dem unscheinbaren Leben, den menschlichen und außermenschlichen Anfängen oder Spuren, den schwachen und geschwächten Signalen des Lebens zu widmen, warum nicht letztlich auch der nur scheinbar toten Natur, die immerhin in ihrer physischen und molekularen Substanz von Bewegung charakterisiert ist. Erdverantwortung wäre Sorge für den Bewegungsapparat der Natur um ihrer selbst willen, nicht allein, weil der Mensch die Natur braucht, sondern auch weil entgegen mancher Diktion selbst die Natur den Menschen braucht. Vielleicht kann man menschliche Erdverantwortung so auch ausdehnen auf Bewegung überhaupt, Bewegung der und in der Materie sowie Bewegung des Geistes. Hier sollte es keine Beschränkung geben, wenn das Dienenwollen zur Maxime wird.

5. Islamische Einsichten

Mit Erwägungen dieser Art nähern wir uns dem Problem, wie denn der Islam grundsätzlich und heutzutage dem Ethos einer Erdverantwortung begegnet. Hier könnte der erste Eindruck äußerst ernüchternd sein, beobachtet man doch eher die Tendenz einer geradezu weltverneinenden Hinordnung auf die Exklusivität einer Gottesidee, zu deren Inhalt weder eine „Arbeit an der Erde“ noch eine grundsätzliche Wertschätzung irdischer Verantwortung zu gehören scheint. Schaut man in die Lebenslehre des Koran und der islamischen Auslegungstraditionen, wird man mit dem Jenseits, dem Paradies, als dem eigentlichen Ziel des Menschen zusammengeführt, das Paradies, das nicht in oder von der Welt ist: „Das vollkommene Glück kann nur im Jenseits sein, denn dieses allein ist unvergänglich“ (Stieglecker S. 184). Der Weg dahin führt zwar über das Diesseitsleben z.B. daß „gewisse Handlungen und Gesinnungen, Werke der Barmherzigkeit, Frömmigkeit, Hochachtung vor dem Leben, der Ehre und dem Vermögen des Mitmenschen Mittel zur Erlangung des Jenseitsglückes sind“, doch ist all dies nicht von der menschlichen Vernunft allein erfaßbar, es bedarf vielmehr der Impulse, die von prophetischen Gestalten wie Ibrahim und Muhammad ausgehen, um die entscheidende Orientierung zu gewinnen. Eine spezielle „Erdverantwortung“ wäre demnach auch erst dann zu konturieren, wenn einschlägige und konkrete Offenbarungsinhalte vorlägen oder eruiert werden könnten.

Der Islam kennt freilich ebenfalls eine Wertschätzung der menschlichen Position, wie sie im Herrschaftsauftrag der Bibel notiert wird, er geht freilich noch darüber hinaus, indem er, ohne der Möglichkeit des Versagens oder einer Erlösungsbedürftigkeit einen so breiten Raum zuzugestehen wie Juden und Christen, den Menschen in seiner gottgeschaffenen und gottgewollten Unschuld abholt und beläßt. Der Mensch ist „geschaffen in den besten der Formen höher als die Engel und mit einer Aufgabe von kosmischer Bedeutung beauftragt (mukallaf), nämlich Gottes Willen auf Erden zu tun, das Absolute in diesem Raum und in dieser Zeit zu tun“, so der Islamwissenschaftler Ismail Raji al-Faruqi. Und weiter: „Für dieses Ziel hat Gott die ganze Schöpfung dem Menschen unterwürfig gemacht und schuf ihn mit der Fähigkeit der freien Tat. Das kausale System der Schöpfung, das von Gott gestützt und befohlen wird, wurde nur für die menschliche Tat aufgebrochen, um einzugreifen und den Lauf der Ereignisse umzuändern und die Schöpfung in das Muster umzuwandeln, das Gott befohlen und geoffenbart hat. Dies ist die Bedeutung des Kalifats des Menschen oder Statthalterschaft Gottes: daß der Mensch die Amanah oder die göttliche Treuhänderschaft in Raum und Zeit hineinträgt“. Mahmud Awan fügt hier hinzu: „Der Wettbewerb in Gottes Statthalterschaft ist frei und offen für alle Menschenwesen“. Erst jüngst schreibt M. Fethullah Gülen in der Zeitschrift Fontäne: „Wenn der Mensch als ein Geschöpf, dessen Wesen von Tugend und Schönheit geprägt wird, durch die(se) Tür, die sich im Namen des Friedens geöffnet hat, hindurchgeht, wird er den Zweck seiner Erschaffung in all seinen wunderbaren Aspekten erkennen. Irgendwann muss ihm das zwangsläufig gelingen, anderenfalls ergäben die Schöpfung des Menschen und seine Aufgabe, als Statthalter Gottes auf Erden zu fungieren, keinen Sinn. Da ich aber davon ausgehe, daß Gott nicht sinnlos handelt, bin ich der festen Überzeugung, dass sich der Mensch eines Tages der Tugend und der Schönheit, die zu seinem Wesen gehört, zuwenden wird. Dann wird unsere alte Erde erleben, wie diese Eigenschaften aus eigener Kraft die Oberhand gewinnen“.

Wenn überhaupt Erdverantwortung, dann ist sie im Islam als eine der Würde des Menschen zugeordnete und auferlegte Durchgangsphase denkbar, als eine Bewegung, die von dem Schöpfer ihren Ausgang nimmt und wieder zu ihm zurückführt. Der Mensch wird letztlich nicht in die Freiheit einer eigenen Entscheidung pro oder contra entlassen, er ist von vorneherein in die „Statthalterschaft Gottes“ derart hineingestellt, daß ihm gar keine andere Möglichkeit bleibt als sich ausschließlich in die Welt-Ummah, die von Gott autorisierte Weltordnung hineinzufinden. Diese Zielsetzung ist die pax islamica, die keinen Ethnozentrismus kennen will, sondern nur eine gemeinsame Verantwortung im Dienst in und am Schöpfertum Gottes. Das eben zitierte Heft der Fontäne trägt den Titel: „Die Verwandlung der Erde in eine Wiege der Liebe“.

Eine eigene Umweltethik ist im Islam noch ein Postulat, kann aber hier nur auf der Grundlage einer Bewahrung der Weltordnung entwickelt werden, welche Formen auch immer im Detail zur Geltung kommen mögen. Das Gewicht des islamischen Beitrags liegt m.E. vorerst noch weniger in einer in konkrete Einzeldevisen mündenden Konzeption einer Erdverantwortung, sondern in deren Einbettung in eine übergreifende Grundidee, die gewissermaßen einen universalen Zyklus beschreibt, der von Gott in diese Lebenswelt und wieder zurück zu Gott führt. Die Vertreter der mystischen Bewegungen des Islam haben diesem Prozeß auf mannigfache Weise Ausdruck gegeben.

So denkt der sufische Meister Rumi an den Prozeß der Ineinssetzung mit den Phänomenen der Natur, an einen allmählichen Aufstieg, der letztendlich zur Gottesschau führt. In einem von Friedrich Rückert übersetzten Gedicht Rumis heißt es (A. Schimmel, Rumi, S. 43)

Siehe, ich starb als Stein und ging als Pflanze auf,
Starb als Pflanze und nahm drauf als Tier den Lauf.
Starb als Tier und ward ein Mensch. Was fürcht‘ ich dann,
Da durch Sterben ich nie minder werden kann!
Wieder, wann ich werd‘ als Mensch gestorben sein,
Wird ein Engelsfittich mir erworben sein,
Und als Engel muß ich sein geopfert auch,
Werden, was ich nicht begreif‘: ein Gotteshauch!

Jüdische und christliche Selbstbeschränkung vor Gott statt ungehemmter Herrschaftsanspruch über die Erde – Im Islam das „Selbstopfer auf jeder Stufe des Daseins“ als „Vorbedingung für Höherentwicklung“ (S. 43), die beiden Vorstellungen müssen nicht als gegenläufige Versuche zur Begegnung mit der Natur verstanden werden. Ästhetik der religiösen Poesie und Pragmatik einer Erdverantwortung meinen auf unterschiedlichen Sprachebenen komplementäre Einsichten. Nicht in der herrscherlichen Dominanz über die Gegebenheiten der Natur, sondern in einer dienenden Funktion gewinnt der Mensch seine von Gott inaugurierte Würde.

Judentum, Christentum und Islam stehen nach allem nicht konzept- und hilflos vor den Herausforderungen an eine Umweltethik. Die Grundeinstellung zur Erdverantwortung ist jeweils die Berufung auf die Initiative des Schöpfers. Entscheidend ist eine gemeinsam empfundene und geforderte Gewissenhaftigkeit auf und gegenüber dieser Erde als Schöpfungswerk Gottes. Wenn das Judentum hier eher die Vollmacht zur konkreten Entscheidung betont, das Christentum vor allem die Befreiung des versagenden Menschen zu sich selbst und seiner Rolle auf der Erde wahrnimmt und schließlich der Islam den letztlich unrevidierbaren Aufstieg des Menschen zu Gott über eine schrittweise Transformation und Vereinigung mit der Natur erkennt und anerkennt, kann und muß es ein engagiertes Zusammenspiel der Religionen um die dienende Verantwortung gegenüber der Mutter Erde geben, auf der wir in Frieden leben wollen.


Wortlaut eines Vortrags vom 24. November 2002, der im Rahmen der Ringvorlesungen an der Universität München zum Thema „Umwelt – Bedrängnis und Bedränger“ im Wintersemester 2002/03 gehalten wurde. Erst nachträglich bin ich auf die von Gottfried Orth herausgegebene Beitragssammlung: „Die Erde – lebensfreundlicher Ort für alle. Göttinger Religionsgespräch 2002 zur Umwelt- und Klimapolitik“, Münster 2002, aufmerksam geworden.

Literaturnachweise:

Awan, M., Die Glaubensgemeinschaft und die Weltordnung aus der Sicht des Islam, in: I. Raji al-Faruqi (Hg.), Judentum, Christentum, Islam. Trialog der Abrahamitischen Religionen, Frankfurt 1986, S. 121-137.

Baeck, L., Das Wesen des Judentums, 4. Auflage, Berlin 1925 (7. Auflage im Nachdruck Darmstadt/Wiesbaden o.J.).

Berger, P.L., Der Zwang zur Häresie – Religion in der pluralistischen Gesellschaft, 1992.

Blasig, W., Ende des multikulturellen Traumes, in: Kirche in 10, 2002, S. 20-21.

Görg, M., „Ebendbild Gottes“ – Ein biblisches Menschenbild zwischen Anspruch und Realität, in: R. Bucher/ O. Fuchs/ J. Kügler (Hg.), In Würde leben. Interdisziplinäre Studien zur Ehren von Ernst Ludwig Grasmück, Luzern 1998, S. 11-23.

Gülen, M.F., Die Verwandlung der Erde in eine Wiege der geschwisterlichen Liebe, in: Die Fontäne 5, Heft 18, 2002, S. 4-7.

Heschel, A.J., Gott sucht den Menschen. eine Philosophie des Judentums, Neukirchen-Vluyn 1989.

Jacob, B., Das erste Buch der Tora, Genesis, übersetzt und erklärt, Berlin 1934 (Nachdruck: New York o.J.).

Keel, O., Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 2. Auflage, Zürich-Einsiedeln Köln 1977 (Abbildung S. 238, 342a: Statuenbasis aus dem Djoser-Bezirk in Sakkara, 3. Dynastie).

Levinson, N.P., Der Messias, Stuttgart 1994.

Raji al Faruqi, I., Der Nationalstaat und die Sozialordnung aus der Sicht des Islam, in: Ders. (Hg.), Judentum, Christentum, Islam. Trialog der Abrahamitischen Religionen, Frankfurt 1986, S. 77-96.

Rosien, P., Keiner fragt, Theologen antworten, in: Publik-Forum 20, 2002, S. 30-32.

Schimmel, A., Rumi. Ich bin Wind und du bist Feuer. Leben und Werk des großen Mystikers, 8. Auflage, München 1995.

Stieglecker, H., Die Glaubenslehren des Islam, Paderborn/München/Wien 1962.

Stipp, H.-J., Dominium terrae. Die Herrschaft der Menschen über die Tiere in Gen 1,26.28, in: A. Michel / H.-J. Stipp (Hg.), Gott – Mensch – Sprache, Schülerfestschrift für Walter Gross zum 60. Geburtstag, St. Ottilien 2001, S. 113-148.

Tibi, B., Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 1998.

Talmon, Sh., Gott und Mensch. Eine zeitgenössische jüdische Sicht, in: Ders., Juden und Christen im Gespräch. Gesammelte Aufsätze, Band 2, Neukirchen-Vluyn 1992, S. 201-208.

Talmon, Sh., Kritische Anfrage der jüdischen Theologie an das europäische Christentum, in: Ders., Juden und Christen im Gespräch. Gesammelte Aufsätze, Band 2, Neukirchen-Vluyn 1992, S. 209-225.

Troll, C.W., Islamische Stimmen zum gesellschaftlichen Pluralismus, in: Der europäische Islam. Schriften zum Dialog der Religionen 2, Berlin 2001, S. 55-92.

Uehlinger, C., Vom dominium terrae zu einem Ethos der Selbstbeschränkung? Alttestamentliche Einsprüche gegen einen tyrannischen Umgang mit der Schöpfung, in: Bibel und Liturgie 64, 1991, S. 59-74.


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