Europa – eine christliche Bastion?

Ein Beitrag von Prof. Dr. Dr. Manfred Görg

In der Diskussion um den ‚Gottesbezug‘ im Verfassungsentwurf für die Europäische Union spielt der Blick in die Geschichte Europas eine große Rolle. Hier wurden Stimmen laut, die neben der Nennung Gottes, etwa in der Präambel, eine Gewichtung der christlichen Glaubenstradition fordern, deren Prägekraft für die Konstitution des künftigen Europa unverzichtbar sei. Mit gutem Grund wird auf kulturelle und religiöse Zeugnisse verwiesen, die die Verpflichtung wachrufen, dieses Erbe in Verantwortung vor der Würde einer schöpferischen Leistungskraft des Glaubensweiterzutragen. Dieser Orientierung folgen auch Initiativen wie der zeitübergreifende Katholikentag, der kürzlich im Wiener Stephansdom feierlich eröffnet wurde.

Alle Rückerinnerung an die sich für manche Augen verklärte und verklärende Gestalt des sogenannten christlichen Abendlandes darf nicht verkennen, dass die europäische Einigung keineswegs zuerst ein Werk des Engagements im christlichen Glauben war. Nicht nur die despotischen Herrschaftssysteme und Auseinandersetzungen kriegerischer Art in der Mitte und am Rande Europas im Zeichen religiöser und konfessioneller Differenzen lassen das Bild einer idealformierten Gemeinschaft unter christlichem Patronat wie eine Seifenblase zerplatzen. Gerade die beiden Religionen, denen man im Abendland oft gewaltsam begegnete, erweisen sich bei näherem Zusehen als Bausteine des vergangenen Europa: Die Fundierung der Menschenrechte ist ohne Verankerung in der jüdischen Tora nicht denkbar. Dem Judentum kommt nicht nur ein entscheidender Anteil an der Vermittlung der Kultur des Morgenlandes zu, sondern auch die Herausforderung zur konstruktiven und mobilisierenden Orientierung auf das Fremde, Andere hin, um die Orientierung an einer humanen Gesellschaft nicht aus dem Auge zu verlieren. Ohne die schöpferische Kultur des Islam wären Errungenschaften zur Bewältigung des Lebens in unseren Breiten undenkbar, ebenso die Vermittlung der Quellen von Humanismus und Mystik bis in die Hoch-Zeiten unserer Theologie, und unser heutiges Nachdenken über die Bestimmung des Menschen in der Welt.

Judentum und Islam gehören zu den Pfeilern Europas. Neben der Erinnerung an das dominierende Christentum sollte die elementare, geschichtliche Verwiesenheit auf die beiden anderen abrahamitischen Religionen dort einen gebührenden Platz finden, wo in Zukunft das Eigentliche und Eigene Europas festgeschrieben wird.

Manfred Görg