Ja, ich bin parteiisch!
von Stefan Jakob Wimmer
Der Nahostkonflikt ist Teil meiner eigenen Biographie. Anders als Viele, die sich oft sehr apodiktisch dazu zu Wort melden und ihre Sicht der Dinge als die einzig gültige durchsetzen möchten, wurde ich mit beiden Seiten von innen her vertraut und kenne die Perspektiven der einen so gut wie die der anderen. Ich sitze nicht „zwischen zwei Stühlen“, wie mir oft gesagt wird – ich sitze auf beiden Stühlen mit drauf, was noch erheblich schwieriger sein kann.
Wann immer ich mich zum Nahostkonflikt äußere, riskiere ich von der einen oder anderen Seite beschuldigt zu werden, offen oder (was noch schlimmer ist) hintenherum. Da heißt es, ich stünde doch wohl, da ich an der Hebräischen Universität studiert und promoviert habe, fließend Hebräisch spreche und in Projekte mit israelischen Institutionen eingebunden bin, klar auf Seiten der „Zionisten“. Dass ich im Titel dieses Beitrags zuerst vom „Staat Israel“ schreibe, sei doch wieder ein Indiz dafür. Ich sei also somit indirekt mitverantwortlich für das anhaltende Leid der Palästinenser. Gleichzeitig heißt es, da ich mit einer Palästinenserin verheiratet war, die die Mutter meiner Kinder ist, mich gerne in arabischen Ländern aufhalte und enge Beziehungen dorthin pflege, stünde ich doch wohl auf Seiten der Palästinenser. Dass ich im Titel dieses Beitrags von der „Nakba der Palästinenser“ schreibe, sei doch wieder ein Indiz dafür. Ich sei also mitverantwortlich für die anhaltende existentielle Bedrohung Israels.
Auf welcher Seite also stehe ich? Möchte ich „unparteiisch“ sein, etwa weil ich meine, dass wer weder Jude noch Araber, weder Israeli noch Palästinenser ist, sich nicht einmischen sollte in deren Konflikt? Und dass wir als Deutsche allen Grund hätten, uns zurückzuhalten? Ich meine tatsächlich, dass wer nicht, wie jüdische Israelis, in einem Staat lebt, dessen Existenz von Vielen nicht anerkannt, ganz offen in Frage gestellt und bedroht wird, und zu deren Alltag die Erfahrung allgegenwärtigen Terrors und von Raketenangriffen gehört, nicht wirklich beurteilen kann, wie damit umzugehen ist und sich mit dem Verurteilen dessen, was man selber anders machen würde, zurückhalten sollte. Und ich meine tatsächlich, dass wer nicht, wie die Palästinenser, sein Leben unter Besatzung zubringt, denen elementare Grundrechte vorenthalten werden, und zu deren Alltag die Erfahrung von Diskriminierung, von allgegenwärtiger Willkür und Gewalt von Soldaten und Siedlern gehört, manchmal auch von Bombardierungen aus der Luft, nicht wirklich beurteilen kann, wie damit umzugehen ist und sich mit dem Verurteilen dessen, was man selber anders machen würde, zurückhalten sollte. Und ich meine tatsächlich, dass wir als Deutsche eine ganz besondere Verantwortung tragen für das, was Juden von Deutschen in undenkbarem Ausmaß angetan wurde. Und indirekt auch für das Unrecht, das, auch in der Konsequenz dessen, den Palästinensern angetan wurde und wird.
Aber „unparteiisch“ möchte ich nicht sein. Ich ergreife entschieden Partei, möchte mich leidenschaftlich einsetzen für eine Seite, deren Ziele und Hoffnungen mit vertreten – und ebenso leidenschaftlich die andere Seite anprangern, die für so viel Leid verantwortlich ist, das schon verursacht wurde, das gegenwärtig verursacht wird und das – leider – noch verursacht werden wird.
Der israelische Unabhängigkeitstag wird nach dem jüdischen Kalender gefeiert, das Datum war der 5. Ijar 5708; dieses Jahr fiel der Tag auf den 26. April. Am Vortrag wird traditionell der Tag des Gedenkens an die israelischen Opfer des Konflikts begangen. Schon seit Jahren wird aber auch alljährlich eine gemeinsame Gedenkveranstaltung organisiert. Dieses Jahr fand sie am 24. April in Tel Aviv statt. Mehrere Tausend Angehörige von Opfern – Israelis und Palästinenser gleichermaßen – kamen zusammen. Gemeinsam trauerten sie um ihre Angehörigen. Und gemeinsam forderten sie, dass nicht noch mehr Opfer folgen sollten.
Ich stehe auf ihrer Seite.
Die Organisatoren, zwei Gruppierungen, die sich „Kämpfer für den Frieden“ und „Elternkreis – Familienforum“ nennen, mussten dafür erneut, dieses Jahr besonders heftig, gegen Widerstände der Behörden ankämpfen. Palästinenser benötigen eine Erlaubnis, um jenseits der Sperranlagen zu gelangen, die ihre Autonomiegebiete umgeben und zerteilen. Nur durch Entscheid des israelischen Obersten Gerichts konnte ihnen die Teilnahme ermöglicht werden – gegen den Widerstand der israelischen Regierung, die das Zusammenkommen verbieten wollte. Sie müssen sich aber auch zuhause gegen Unverständnis und Vorwürfe hinwegsetzen, dass sie den ‚geheiligten Widerstand‘ untergraben, der mit allen Mitteln fortgeführt werden müsse. Den israelischen Teilnehmern wird zuhause vorgeworfen, sie machten mit einem ‚den Nazis vergleichbaren Feind‘ gemeinsame Sache.
Die renommierte israelische Tageszeitung Haaretz schrieb dazu: „Die Gesichter der Teilnehmenden zeigten deutlich ihre Empathie – nicht für sich selber, denn nach Jahren von Hetze, Drohungen und Erniedrigung brauchen sie keine mehr – sondern für die andere Seite. Die Juden fordern Empathie von ihrem eigenen Volk für die Palästinenser, und die Palästinenser fordern sie für die Juden. Diese ganze Zeremonie erfordert Empathie, nicht im oberflächlichen Sinne von warmherzigen Gefühlen, sondern im authentischen, tieferen und echt subversiven Sinne des Wortes: Empathie, deren Ziel die Fähigkeit ist, sich selbst in die Schuhe von jemand anderem zu begeben.“ (Haaretz wurde noch vor dem Staat Israel gegründet und galt Jahrzehnte lang als die angesehene Qualitätszeitung, vergleichbar SZ und FAZ in einem, ein Aushängeschild des Landes. Heute wird sie von manchen, ganz besonders in der jüdischen Diaspora, als geradezu linksradikal stigmatisiert – selbst in München ist einem prominenten Journalisten von Haaretz „Antisemitismus“ vorgeworfen worden. Nicht, weil das Medium sehr viel linker geworden wäre, sondern weil die israelische Gesellschaft sehr viel rechter geworden ist.)
Ich möchte auf der Seite von Israelis und Palästinensern stehen, die auch die Perspektive der anderen gelten lassen, die weder den Terror der einen noch die Besatzung der anderen verharmlosen und die die Freiheit und Sicherheit beider Völker meinen, wenn sie von der erhofften Lösung des Konflikts sprechen. Ich stehe entschieden nicht auf der Seite derer, die alle Schuld auf der anderen Seite suchen. Nicht auf der Seite von Netanjahu und von „Hamas“; nicht auf der Seite von Muslimen, die Hass und Gewalt gegen Juden propagieren und das als vermeintlich „islamisch“ darstellen; und nicht auf der Seite derer, die pauschal Palästinenser (oder Araber oder Muslime) als Terroristen verdächtigen, ihnen ihre vollen Rechte als Volk absprechen; und auch nicht auf der Seite solcher, die ihre Religion, politische Interessen oder sogar den Antisemitismusvorwurf instrumentalisieren, um eine der beiden Seiten der Medaille auszublenden.
Als ich vor wenigen Wochen wieder in Jerusalem war, eingeladen von meiner Hebräischen Universität, waren im Flur des Hotels philosophische Weisheiten ausgehängt. Darunter ein Spruch des US-Amerikaners Zig Ziglar: „Das Leben ist ein Echo. Was du aussendest, kommt zurück. Was du sähst, erntest du. Was du gibst, bekommst du. Was du in anderen siehst, existiert in dir selbst!“
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